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Tschüss, das war´s – aus dem Alltag einer Klavierlehrerin

Kein Einzelfall: Neulich geschehen in einer Musikschule

Seit anderthalb Jahren mühe ich mich mit dem Schüler ab. Er schaut mich mit großen Augen an, versucht meine immer wiederholenden Übungen zu verstehen und umzusetzen, sagt ja, auch wenn er nicht versteht. Er übt, so gut er eben kann.

Ich spreche viel mit ihm, singe, laufe gemeinsam mit ihm klatschend und stampfend im 3er, 4er, 5er Takt durch den Raum, spiele Schlagwerk mit ihm, ziehe ihn mit, frage, lasse ihn reden. Wir lachen sogar zusammen, ich lauter als er.

Meine Arbeit ist anstrengend, aber sinnvoll.

Ich spreche mit der Mutter, die ihn wöchentlich bringt und abholt. Über den Stand der Dinge, Hausaufgaben, Vorspiele.

Dabei bemühe ich mich um eine klare Sprache, freue mich über kleinste Fortschritte und bin voller Hoffnung, dass ihrem Sohn das Spiel auf dem Klavier gefällt.

Ich gehe noch einen Schritt weiter und beziehe ihn in ein großes Musiktheaterprojekt ein. Immer wieder denke ich, wie wichtig es ist, durch gemeinsame musikalische Aktivitäten Begeisterung zu wecken, meine eigene freudige Energie zu übertragen. Ich habe Großes im Sinn und glaube an das Gute.

Die Kündigung

Und dann nach anderthalb Jahren: die Kündigung. Sie kommt völlig überraschend und dringt über Umwege zu mir vor. Denn die Mutter spricht nicht zuerst mit mir, sondern der Vater kündigt über das Sekretariat. Schon bald lese ich die erste Mailkorrespondenz zwischen der Familie und dem Sekretariat. Es ist bereits einiges im Gange, noch bevor ich überhaupt informiert werde und während ich weiterhin akribisch meinen Unterricht für das Kind vorbereite.

Das zentrale Anliegen der Familie: Was können wir tun, um eher aus dem Vertrag zu kommen? Dreimonatige Kündigungsfrist ist wirklich lang. Und so viel Geld bezahlen ohne Unterricht?

Ich bin verwirrt.

Dann eine Mail der Mutter: Ihr Mann hätte etwas voreilig gehandelt, wir sollten wohl besser mal persönlich reden.

Ja, das finde ich auch und bereite mich innerlich auf alles vor.

Das Gespräch ist betont freundlich, der Subtext schon um einiges kühler. Noch einmal der Versuch der Mutter, früher aus dem Vertrag zu scheiden. Ich biete viele Möglichkeiten an: Lehrerwechsel für die verbleibende Zeit oder Unterrichtspause und dann wieder neu beginnen, den Unterricht jemandem anderes übertragen und und und. Aber an der dreimonatigen Kündigungsfrist halte ich fest.

Noch erkläre ich ihr freundlich, wie unfair ich gegenüber meinen Kolleginnen und Kollegen wäre, würde ich ihren Sohn einfach so eher aus dem Vertrag entlassen. Zumal das als Honorarkraft auch nicht in meinem Handlungsspielraum liegt.

Ich appelliere an ihre Menschlichkeit. Wir verdienten ohnehin nicht viel bei dieser Arbeit und bräuchten eine gewisse Sicherheit. Drei Monate…..

Aber die Mutter kennt keine Gnade. Sie sieht es nicht ein, drei Monate Geld für nichts zu zahlen.

Wir kommen zu keinem Ergebnis, ich rate ihr zum Gespräch mit dem Musikschulleiter.

Sie geht, ich stehe da, bin noch verwirrter.

“Sie sind nicht kompromissbereit”

Ihre Worte hallen nach:

„Es liegt an Ihnen, Sie sind nicht kompromissbereit.“

Würde sie mit dem Vermieter ihrer Wohnung auch so reden? Oder mit dem Telefonanbieter und Fitnesstrainer? Viele Verträge kann man immerhin nur einmal im Jahr kündigen.

Und dann ergreift sie mich: WUT! Unfassbare WUT!

Plötzlich wird mir alles klar und passt in das Bild, das soeben seinen letzten Pinselstrich erhalten hat.

Es ist ein schiefes Bild, das viele Dialoge wachruft:

Die Mutter:

“O, mein Sohn hat nicht alle Noten dabei, ich habe sie vergessen.”

Die Lehrerin:

“Okay. Aber eigentlich ist es ja auch nicht Ihre Aufgabe, sondern die Ihres Sohnes.”

(Hilfestellung im Hausaufgabenheft: bitte immer am Abend vor dem Unterricht folgende Dinge einpacken….)

Die Mutter:

“Mein Sohn kann nicht zur Probe kommen. Fährt weg, ist schon seit vielen Monaten gebucht.”

Die Lehrerin:

“Die Proben stehen auch seit vielen Monaten fest. Ich bitte das nächste Mal um rechtzeitige Kommunikation. Ist immerhin die Hauptprobe.”

Die Mutter:

“Ja. Stimmt, Entschuldigung. Kann er trotzdem noch mit machen?”

(Ja, er kann. Das Musiktheaterprojekt, wofür geprobt wird, ist ein einmaliges kostenfreies Zusatzangebot.)

Der Vater:

“Wann geht das Vorspiel noch mal los?”

Die Lehrerin:

“18 Uhr. Steht auch im Hausaufgabenheft.”

Der Vater:

“Wann ist das zu Ende? Wir haben noch was vor danach.”

Die Lehrerin:

(schweigt)

Viele Bilder und Rückblenden ergeben plötzlich ein einziges lautes und schrilles Bild, das ich einfach nicht verstehen will.

Keine Wertschätzung, kein Dank

Wer bin ich? Welche Rolle spiele ich? Welche Rolle spielt der Sohn? Warum schickt diese Familie ihr Kind in meinen Unterricht? Was soll er da tun? Ein Instrument lernen oder bespaßt werden? Und was tue ich in den Augen der Eltern? Ernsthaft unterrichten? Freizeitbespaßung? Nachmittagsbetreuung?

Die Gedanken und Fragen rasen in Höchstgeschwindigkeit durch meinen Kopf und durch den ganzen Körper:

Ist das eigentlich normal, dass ein fast neunjähriges Kind nicht in der Lage ist, seine Noten selber einzupacken?

Ist es eigentlich normal, dass die Fragen, die ich einem fast neunjährigen Kind stelle, noch immer durch die daneben stehenden Eltern beantwortet werden?

Ist es eigentlich normal, ständig Dinge von mir und meinen KollegInnen zu verlangen, von denen sie im Grunde nichts verstehen?

Wissen diese Menschen eigentlich, was eine Musikschule ist?

Wissen diese Menschen eigentlich, was ein Musikstudium ist?

Wissen sie, dass Musik zu lehren alles andere als ein Hobby ist?

Haben diese Eltern eigentlich einmal „Danke“ zu mir gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht ist meine Wut gerade so groß, dass ich das „Danke“ einfach ausblende.

Nein, ich habe kein „Danke“ gehört. Ich habe ein gutes Gedächtnis.

Mein Herz rast. Ich bin außer mir. Am liebsten würde ich schreiend raus rennen, Türen knallen, allen diese Ungerechtigkeit ins Gesicht schreien.

Aber der nächste Schüler wartet draußen vor der Tür. Und er kann ja schließlich nichts dafür.

Meine Zähne knirschen. Meine Lippen versuchen zu lächeln. Der Unterrichtsalltag geht weiter. Ich wiederhole meine Übungen mit dem jetzt vor mir sitzenden Schüler, wir spielen zusammen, klatschen, gehen im Takt durch den Raum. Es geht voran. Ich freue mich über die Fortschritte meines Schülers und spreche mit seiner Mutter.

Eine Woche ist vergangen.

Zum letzten Mal bringt die Mutter ihren Sohn in meinen Unterricht.

Mein Schüler und ich arbeiten ein letztes Mal gemeinsam, ich gebe ihm letzte Hinweise, wir erarbeiten das letzte Stück. Am Ende unserer letzten gemeinsamen Stunde entlasse ich ihn, wünsche ihm alles Gute, lächle ihn an und gebe ihm die Hand.

Seine Mutter holt ihn zum ersten Mal nicht ab. Ich sehe sie nicht wieder, sie verabschiedet sich nach anderthalb Jahren Klavierunterricht nicht und verschwindet im Nichts.

Da stehe ich und weiß nicht weiter.

Ist meine Arbeit gesund?

Die Frage kommt mir ganz plötzlich in den Sinn.

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Susann Krieger studierte Korrepetiton/ Musiktheater (HfM Dresden) und Rundfunk-Musikjournalismus (HfM Karlsruhe). Sie arbeitet als freie Autorin für verschiedene ARD-Rundfunkanstalten (u.a. WDR, BR, MDR, SWR) und unterrichtet Klavier. 2017 erhielt sie den Deutschen Radiopreis für die beste Reportage und wurde für den Prix Europa nominiert.

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