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Ist die Musikbildung in unserem Land noch zeitgemäß?

Musikbildung und Technologie – Das Interview mit Helmut Herglotz

Nimmt sie die digitale Entwicklung wahr? Gibt es eine Kluft zwischen dem, was Technologie kann und inwieweit sie im Musikunterricht eingesetzt wird? Im Gastbeitrag “Musikbildung und Technologie” beschäftigte sich Helmut Herglotz in der vergangenen Woche mit dem Thema “Digitalisierung im Musikunterricht”. Er selbst ist Gründer & CEO von sofasession GmbH. Seit 2014 können Musiker auf der ganzen Welt über das Internet auf der Plattform sofasession.com miteinander Musik machen. Auf Nachfrage aus dem musikalischen Bildungsbereich wurde etudo geschaffen, eine interaktive App für den Musikunterricht.

msi: Was ist für Sie ein guter und moderner Musikunterricht?

Helmut Herglotz: Ein guter Musikunterricht schafft es, den SchülerInnen den Spaß an der Musik zu vermitteln, passt sich an die Lerngeschwindigkeit der SchülerInnen an, über- und unterfordert sie nicht und motiviert die Lernenden dazu, sich auch weiterhin mit dem Thema Musik zu beschäftigen. Modern bedeutet, dass aktuelle Entwicklungen in den Unterricht einfließen, das können zeitgenössische Aspekte des Musizierens sein oder auch Instrumente oder Werkzeuge, die heutzutage verwendet werden. Die Antwort auf die Frage ist eine Kombination dieser beiden Elemente und Technologie kann in beiden Bereichen unterstützen.

msi: Was ist aus Ihrer Sicht die größte Hemmschwelle, neue Technologien im Musikunterricht einzusetzen?

Helmut Herglotz: Musikunterricht umfasst ein sehr großes Themenfeld: Von dem rein technischen Aspekt des Beherrschen eines Instruments, über Musiktheorie, Verständnis von symbolischer Repräsentation von Musik wie z.B. Noten, Gehörbildung und vielen Dingen mehr. Mir scheint, als würde oft der Aufwand für den Einsatz von neuen Technologien überschätzt werden oder der Mehrwert, den neue Technologien im Unterricht bringen können, nicht gesehen oder unterschätzt werden. Wir haben alle vor 20 Jahren ohne Mobiltelefon gelebt und mussten den Einsatz dieser Technologie ebenfalls erst lernen. Der Mehrwert davon ist aber enorm und ich denke, dass sich viele Menschen heute nicht mehr vorstellen wollen, ohne diese Technologie den Alltag zu bestreiten. In der Lehre (und nicht nur im Musikunterricht) sind wir noch weit davon entfernt, die Vorteile in dem Ausmaß zu nutzen, wie es in vielen anderen Bereichen unseres Lebens bereits der Fall ist.

Ich bin auch der Meinung, dass es einer Schärfung des Begriffs “neue Technologien” bedarf, um diesen Mehrwert zu verdeutlichen und kommunizieren zu können. Ohne diese Schärfung denke ich, dass man Gefahr läuft, daraus eine hohle Phrase zu machen. Ich habe in einigen Workshops, die ich halten durfte, oft vernommen, dass LehrerInnen manchmal  nicht klar ist, was sich überhaupt hinter diesem Begriff verstecken kann. Wir sprechen ja auch nicht davon, dass wir zu Hause neue Technologien einsetzen, sondern wir verwenden einen Browser, um im Internet zu surfen, ein E-Mail Programm, um elektronisch Briefe zu verschicken, oder Messenger, um mit unserer Familie und unseren Freunden in Kontakt zu bleiben.

Sie schreiben in Ihrem Artikel, dass LehrerInnen und SchülerInnen Technologien vollkommen unterschiedlich nutzen. Wie könnte man da eine gemeinsame Ebene finden?

Es hängt natürlich davon ab, was im Musikunterricht sinnvoll eingesetzt werden kann und darüber kann sich diese Schnittmenge definieren. Zum Beispiel ein Programm, das die Gehörbildung unterstützt und das auf einem Medium zum Einsatz kommt, das sowohl von LehrerInnen und SchülerInnen verwendet wird. Das Programm muss auch auf beiden Seiten Mehrwert stiften: Den LehrerInnen, weil weniger Vorbereitungsarbeit notwendig ist und den SchülerInnen, weil sie einfacher Übungen durchführen können.

Wer oder welche Methode könnte Lehrerenden dabei helfen, ihre Hemmschwellen, Ängste vor Neuem zu nehmen und sie kurzfristig und erfolgreich anzuleiten, mit neuen Technologien im Unterricht zu arbeiten?

Wie bereits oben erwähnt, gibt es oft Unverständnis darüber, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Einfach auch aus dem Grund, weil oft Methoden und Lehrmittel eingesetzt werden, die im Rahmen der eigenen Ausbildung Verwendungen gefunden haben und man einfach wenig Gelegenheit dazu hat, sich mit neuen Dingen auseinanderzusetzen. Die Vorstellung neuer Methoden, Technologie wie Apps oder Hardware könnten im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen im weiteren Sinne durchgeüfhrt werden. Solche Maßnahmen können Workshops sein, aber auch Videos oder Artikel, die bequem über das Internet von interessierten LehrerInnen jederzeit angesehen oder gelesen werden können. Meine Erfahrung zeigt, dass oft Schritt für Schritt Anleitungen sehr hilfreich sind, die z.B. mit Videos gut abgedeckt werden können.

Auf der einen Seite stehen die Software-Entwickler mit ihren vielen Ideen und auf der anderen die Lehrerenden, die seit Jahren nach ihren bewährten Methoden unterrichten. Wie kann man zwischen beiden eine Brücke bauen?

Viele Entwickler stehen vor der Herausforderung zu verstehen, welchen Platz ihre Applikationen in z.B. einer Unterrichtssituation haben können. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es nicht einfach ist, eine gute Applikation zu bauen und mit „gut“ meine ich eine Applikation, die die Lehrenden unterstützt und nicht zusätzlich belastet. Letztendlich bedeutet das Kommunikation zwischen beiden Seiten und je früher diese stattfindet, desto eher schlägt sich das in hilfreichen Applikationen nieder, deren Mehrwert von allen Seiten gut verstanden werden kann.

Es werden jährlich zahlreiche Lernsoftwares und Apps auf den Markt geschwemmt, es wird leicht unübersichtlich. Wie kann ein wenig erfahrener Nutzer da gut auswählen?

Das ist tatsächlich eine sehr gute Frage, ich denke, dass ich keinen kompletten Überblick über das Angebot habe, obwohl ich mich stark mit der Materie beschäftige. Letztendlich ist nicht alles, was sich Lernsoftware nennt, auch tatsächlich so gut zum Lehren und Lernen geeignet und auf der anderen Seite gibt es sicherlich viele Applikationen, die im Lernprozess eingesetzt werden können, die aber nicht spezifisch als „Lernsoftware“ tituliert werden. Es gibt auch unter den LeserInnen dieses Artikels sicherlich einige, die sich mit Videotutorials Dinge angeeignet haben, auch wenn die “Software”, auf der diese Inhalte verfügbar sind, nicht unbedingt als Lernsoftware wahrgenommen wird. Ich denke, dass man Interessierten das Angebot und den Überblick verständlich und in nachvollziehbaren Anwendungsschritten näher bringen sollte, um einen Überblick verschaffen zu können, wie oben bereits ausgeführt.

Stehen Sie mit MusikpädagogInnen in Kontakt, die bereits mit neuen Technologien arbeiten? Wenn ja, welche Rückmeldungen bekommen Sie?

Ja, das tun wir und die Rückmeldungen sind meistens positiv. Man muss dazu sagen, dass diese PädagogInnen üblicherweise technikinteressiert sind und sich auch aus einem eigenen Interesse heraus mit der Materie beschäftigen. Sehr oft ist das Ergebnis vom Einsatz solcher Technologie ein ansprechender und anregender Unterricht für die SchülerInnen, mehr Fokus im Unterricht und auch größere Motivation bei den SchülerInnen, da die Technologien (wie z.B. Apps) auch zu Hause verwendet werden können und das Üben und alleinige Musizieren ansprechender machen.

Wieviel Zeit muss aus Ihrer Sicht vergehen, damit die Brücke zwischen der „alten Kunst Musik“ und den vielen innovativen Möglichkeiten der Musikvermittlung gebaut ist?

Musik ist keine alte Kunst, wir neigen nur manchmal dazu, sie im Unterricht alt erscheinen zu lassen. Und es bedarf oft viel Zeit, bis sich diese ständige Wandlung in der Musik im Unterricht niederschlägt.

Die Beatles waren ein riesiges musikalischen Phänomen zu ihrer Zeit, mit ihrem Stil revolutionär und fernab von dem, was man seinerzeit als Musik gewohnt war. Heutzutage würden wohl die wenigsten PädagogInnen davor zurückschrecken, im Musikunterricht Beatles zu spielen, aber ob das zu der Zeit der Beatles ebenso war, wage ich zu bezweifeln. Ähnliches gilt wahrscheinlich für Jazzmusik, die heute wohl zur Königsklasse im Popularmusikunterricht zählt und lange Zeit verpönt war.

Wenn wir uns die zeitgenössische Musik ansehen, oder besser gesagt, anhören, sehen wir einen starken Paradigmenwechsel darin, wie Musik gemacht wird. Das ist kein Phänomen der Neuzeit, denn Musik hat sicher im Laufe der Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende immer verändert.

In den letzten hundert Jahren gab es meiner Meinung nach zwei technische Errungenschaften, die einen weitreichenden Einfluss auf Musik hatten. Die erste war die Elektrifizierung Mitte des 20. Jahrhunderts: Sie brachte uns neue Instrumente, aber auch neue Technik und Techniken im Bereich der Schaffung von Musik: Multispuraufnahmestudios zum Beispiel. Davor mussten Musiker ausschließlich live spielen können, plötzlich war es notwendig, genau in time spielen zu können. Und das hat natürlich Auswirkungen auf die Musikvermittlung und ihre Methoden gehabt.

Die zweite große Änderung erleben wir derzeit alle gemeinsam seit rund 15 Jahren: Die Digitalisierung von Musik. Sie ist meiner Meinung nach genauso durchdringend wie die erste. Sie hat ebenfalls neue Instrumente hervorgebracht und ebenfalls neue Techniken im Bereich der Kreation von Musik. Diese sind im Unterricht beinahe noch gar nicht angekommen.

Ich denke, dass viele von uns sich beruflich mit dem Thema Musik beschäftigen, weil zu einem gewissen Zeitpunkt in unserem Leben Musik einen so prägenden Eindruck hinterlassen hat, dass wir uns dazu entschlossen haben, es zu einem unserer Lebensinhalte zu machen. Ob als Lehrende oder in meinem Beispiel im Softwarebereich. Und dieses prägende Erlebnis setzt meisten den Maßstab dafür, was wir als musikalisch wichtig erachten. Ich glaube, dass es vielleicht eine Generation braucht, bis Digitalisierung als Bestandteil des Musizierens in breiter Form wahrgenommen wird: Also dann, wenn die musikbegeisterten jungen Leute von heute selber in die Position gekommen sind, in der wir uns heute befinden. Und dann wird die Bedeutung des Einsatzes von digitalen Instrumenten, Werkzeugen, Methoden und Techniken nicht unklar sein.

Bis dahin ist es wichtig, dass die Vorteile von einfach aufgezeigt werden und einfach selber reproduziert werden können.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Susann Krieger studierte Korrepetiton/ Musiktheater (HfM Dresden) und Rundfunk-Musikjournalismus (HfM Karlsruhe). Sie arbeitet als freie Autorin für verschiedene ARD-Rundfunkanstalten (u.a. WDR, BR, MDR, SWR) und unterrichtet Klavier. 2017 erhielt sie den Deutschen Radiopreis für die beste Reportage und wurde für den Prix Europa nominiert.

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